Enno Brouer, Grotegaste vor 100 Jahren

 

Dieses Bild erhielt ich als Kopie von Ingrid Benner, geb. Basse, Tochter des ehemaligen Grotegaster Lehrers Basse. Es wurde offensichtlich von einem Berufsfotografen angefertigt und dann als Postkarte verkauft. Ich vermutete, die Original Postkarte wäre im Besitz von Anna Kramer in Coldemüntje. Johann Uden aus Lütjegate hat recherchiert und konnte das nicht bestätigen. Es wird in Grotegaste sicherlich noch eine Originalpostkarte geben, auf dieser könnten sicher noch mehr Details erkannt werden.

Es gab Unsicherheiten über das Entstehungsdatum des Bildes. Nach Größe der Bäume mus es um die Jahrhundertwende aufgenommen worden sein. Das Schulgebäude (ganz links) wurde 1897 gebaut. Einen weiteren Hinweis gibt der Steinhaufen vor der Hecke der Kirche. Nach Bericht von Wilhelm B. Müntinga wurde der Weg vom früheren Deich bis nach Grotegaste erst im Jahr 1900 gepflastert. Links vom Steinhaufen in Richtung Deich ist eine ebene helle Linie erkennbar, offensichtlich das neue Pflaster. Diese helle Linie erscheint dagegen rechts vom Steinhaufen nicht. Das lässt den Schluss zu, dass der Straßenbau bis zur Kirche bereits erfolgte, dass also das Foto im Jahr 1900 entstanden ist. In der Ostfriesen-Zeitung erschien am 27.4.1084 über „Sterbende Dörfer in Ostfriesland“. Dort heißt es: „Die alten Einwohner der Deichgemeinden hatten ihre Grundsätze: Einer ging prinzipiell über die Weiden zur Kirche. Die Straßen waren ihm gleichgültig.“ Das war wohl eine ungerechtfertigt Unterstellung: zur Grotegaster Kirche führte vor 1900 keine gepflasterte Straße. Damit trotzdem die Gemeindeglieder aus Dorenborg und Coldemüntje trockenen Fußes zum früher obligatorischen Gottesdienst kommen konnten, wurden schon lange vor 1900 schmale, gepflasterte Fußwege angelegt. Ein Weg führte vom jetzigen Eingang der Hofstelle Busemann zum Kolk. Dieser Weg war bis in die 50er Jahre noch fast vollständig erhalten und wurde auch benutzt, weniger für Kirchgang als z.B. um zu Fuß zur Bahnstation Hilkenborg zu gelangen. Ein anderer gepflasterter Pfad führte von dem Weg hinter der Schule nach Dorenborg. Hier waren in den 50er Jahren nur noch Reste vorhanden, er wurde auch nicht mehr benutzt. Für ahnungslose Betrachter mag es ja so ausgesehen haben, dass „ein alter Einwohner“ mit seinem „Grundsätzen“ durch das Weideland trampelt, wenn er auf dem Weg zur Kirche war.

Kennzeichnend ist, dass sowohl die Schulmeisterei, als auch die Pastorei wie kleine Bauernhöfe aussehen. Schulmeister de Haan und später dann Pastor Brouer waren die letzten, die noch Landwirtschaft betrieben haben. Vor dem Kuhstall des Lehers tummeln sich Hühner. Aus dem Kuhstall schaut Frau de Haan, geb. Feenders, oder deren Dienstmagd den Hühnern zu. Die Mutter oder Schwiegermutter sitzt auf dem Deckel der Abortgrube und genießt die Abendsonne. Hinter ihr im Haus befindet sich das Plumpsklo und dahinter folgen 5 Buchten für Kühe. Das Scheunentor des Lehrerhauses war im Gegensatz zu Pastorei für die Einfahrt eines Heufuders zu niedrig. Das Heu musste durch eine Luke (zwischen Stalltür und Scheunentor) auf den Boden oberhalb des Kuhstalls gestopft werden. Anders als bei der Pastorei war hier auch kein Pferdestall vorgesehen. Der Lehrer hatte nur etwa 7 ha zu bewirtschaften. Im Bereich von Kuhstall/Scheune befand sich auch die Küche. Der Schornstein der Küche ragt aus dem seitlichen Dach heraus. Dahinter war das schmälere Wohngebäude mit ehemaligem Schulraum (bis 1897) angebaut. Schulraum mit Vorderraum befanden sich rechts des Firstes, Wohnung des Lehrers links des Firstes. Der Lehrer hatte vor 1897 neben der Küche nur „Kamer un Upkamer“ zur Verfügung, das Personal schlief in Butzen in der Wand zur Scheune. Auf dem Bild ist rechts des Hauses ein weißer Fleck erkennbar; hier befand sich vor dem Bau der getrennten Schule der Zugang zum Schulraum; sozusagen eingezwängt zwischen den Eckpunkten ihres Lebens, zwischen Kirche und Kuhstall, wurden die Grotegaster Kinder in die Bildungsstätte geführt. Noch bis 1919 hatte Pastor Brouer die geistliche Schulaufsicht (natürlich in der „neuen“ Schule) und musste ein oder zweimal pro Jahr überprüfen, ob die Kinder auch in Ehrfurcht gegenüber Gott und Kaiser erzogen wurden. Hinter der Küche um die Ecke gab es eine Eingangstür zum Vorraum des Schulzimmers. Der Lehrer hatte Zugang vom Haus aus.

Der Kirchturm hatte auf dem Bild noch seine ursprüngliche, proportionierte hohe Spitze, die in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts anlässlich einer Reparatur aus Sparsamkeitsgründen niedriger ausgeführt wurde. Vor dem Eingang ist links ein Aushangkasten zu erkennen, der noch bis in die 1930er Jahre existierte. Vor der Bismarckschen Reform um 1890 hatte die Kirche auch die Funktion eines Standesamtes. Die Aushänge betreffend z.B. Aufgebote gaben vor bzw. nach dem Gottesdienst Anlass zur Unterhaltung auf dem Platz vor der Kirche. In der Kirche lag bis in die 50er Jahre unterhalb der Kanzel eine schwarze Wandtafel von der doppelten Größe eines Küchentabletts, auf der früher in drei oder vier Zeilen der Schulmeister die Nummern der zu singenden Lieder mit Kreide aufzumalen hatte. Der letzte noch vorhandene Eintrag mit sehr schöner und gleichmäßiger Schrift stammte nach Auskunft vom Küster Nordmann noch von Lehrer de Haan und wurden zur Erinnerung an den alten Lehrer nicht ausgelöscht. Diese Tafel wurde einst an einen damals noch vorhandenen Messinghaken, dessen Spitze aber bereits abgebrochen war, vorne an die Kanzel gehängt bis dann zwei Tafeln für auswechselbare Ziffern angeschafft wurden, die links und rechts der Kanzel hingen oder auch noch hängen.

Frieda Brouer berichtet in einem schreibmaschinenschriftlichen Bericht (ca. 1957), dann veröffentlicht in Unser Ostfriesland Beilage zur Nr. 1 10.1.1959: „1800 sahen sich die Kirchvögte Jann O. Schule und Abel V. Groeneveld in die unabweisbare Notlage versetzt, den Turm, welcher schon lange abzustürzen drohte, abzubrechen. Der neue ist errichtet druch Zimmermann Jan Gerdes zu Weener für 4000 Gulden pr.C.“.

Pastor Brouer berichtete, es habe ursprünglich als Aufhängung für die Glocken nur eine Holzkonstruktion gegeben, die zwischen Kirche und Pastorei gestanden hätte. Es ist unklar, ob der „abstürzende Turm“ die Holzkonstruktion beschreibt. Wahrscheinlicher ist wohl, dass diese Holzkonstruktion noch vor der Errichtung des abstürzenden Turmes“ einst als Behelf gedient hat, wenn es sie überhaupt gegeben hat.

Auf dem Foto ist rechts des Steinhaufens ein Gatter zu erkennen; hier war womöglich ein zweiter Friedhofseingang. Nach Bericht von Wilhelm B. Müntinga ist nämlich um 1900 der Friedhof erweitert worden zu Lasten der Hoffläche der Pastorei.  Die Einfahrt Pastorei war bis dahin weiter von der Kirche weg, ein Torpfosten der Einfahrt erscheint hinter dem 3. Baum an der Straße. Hinter der Hecke steht jemand (wahrscheinlich im Hof der Pastorei), womöglich ein Mitglied der Familie von Pastor Relotius. Hinter dieser Person taucht zwischen zwei Bäumen das Scheunentor der Pastorei auf so, wie es bis zum Abbruch des Hauses existierte. Dahinter ist die Scheune des Nachbarhauses der Pastorei sichtbar. Es wurde nach der Entstehung des Bildes dann eine neue repräsentative Einfahrt zur Pastorei geschaffen mit Eisentoren und Steinsäulen, von massiven Steinkugeln gekrönt. Diese hätten beinahe spielende Kinder erschlagen und wurden dann sicherheitshalber auf dem Dachboden der Pastorei verwahrt. Auch das Tor vom Gelände der Pastorei zur Kirche mit angrenzenden mit Ketten verbundenen Steinpfosten (damals Modeartikel) wurde zur neuen Begrenzung zum Friedhof.

In der Pastorei gab es eine größere Scheune als im Schulmeisterhaus, in die auch Heufuder einfahren konnten; es gab 5 Buchten für Kühe und 2 Pferdeplätze, die jedoch kurz nach der Jahrhundertwende in Plätze für Kühe umgewandelt wurden. In die vorherigen Kuhbuchten wurden dann Fahrräder (Ersatzpferde) eingestellt; zwei der Kuhbuchten wurden zu einem Hühnerstall, die Hühner hatten zur Straße hin einen großen Drahtkäfig zum Auslauf.

Interessant wäre es zu, zu klären, wieweit Pastor und Lehrer damals auf den Betrieb einer Landwirtschaft angewiesen waren. Pastor und Lehrer mussten wohl vor 1800 ganz von der Gemeinde unterhalten werden. Sie erhielten wohl das Kirchenland zur Bewirtschaftung und mussten Personal einstellen.

Pastor Brouer hat bis in die Nachkriegszeit hinein die Heuernte mit seiner Familie bewältigt. Gemäht wurde gegen Entlohnung schon mit einer pferdegezogenen Lanz Mähmaschine. Pferd und Wagen für die Heuernte stellte Küster Nordmann zur Verfügung. Wilhelm B. Müntinga berichtete, dass noch um die Jahrhundertwende holländische Wanderarbeiter im Hammrich bei der Mahd mit Sense eingesetzt wurden, die dort in Zelten übernachteten.

Die Kühe des Pastors musste das Dienstmädchen melken, wenn sie ihren freien Tag hatte, musste Frau Pastor ran. Es gab schon mal Gerüchte: „Pastor Brouer de geiht in Klumpen hen to melken“.  Das war aber nie der Fall. Als während des Krieges der Arbeiter Henning den zweiten Sohn verloren hatte, hat Pastor Brouer ihm bei der Heuernte geholfen (obwohl er damals vier Gemeinden betreute). Der dritte Sohn (der dann auch noch gefallen ist) verstaute das Heu auf dem Wagen, abends beschwerte er sich bei den Eltern: „Pastor kunn man verdammt gau upsteken“.     

Enno Brouer, Juni 2007