Anton Koolmann, Ein Esklumer Pastor als Chronist

Das Leben im Pfarrhause eines einsamen Marschen-Dorfes vor über hundert Jahren

Abseits lag früher das kleine Warfendorf Esklum. Das uralte Kirchlein mit einem friesischen Satteldachturm, in dem über fünfhundert Jahre alte Glocken des mittelalterlichen Gießers Shegebod ihr Geläute erklingen ließen, duckte sich unter die Kronen gewaltiger Eschen. Südwärts am Kirchhof stand das trauliche Pfarrhaus, in seiner Bauart kaum von den Bauernplaatsen ringsum zu unterscheiden. Und doch gehörte das Dörfchen nicht zu den einsamsten Siedlungen; fließt doch an ihm die Leda vorbei, auf der ein lebhafter Schiffs- und Bootsverkehr stromab und stromauf sich abspielte. Eine Boots– und Wagenfähre an der Westseite der Warf lenkte den von Süden kommenden Verkehr über den Fluss zum aufblühenden Flecken Leer, der von Norden herübergrüßte.

Diese Leda-Fähre lag einst weiter westwärts, bei dem berühmten Kloster Muhde. Als sich dort gegenüber im fünfzehnten Jahrhundert die starke Festung Leer entwickelte, verlegte der Landesherr die Fähre nach Esklum, um etwaigen Spionagemöglichkeiten zuvorzukommen. Nur im Sommer und aan trockenen Herbsttagen waren die dem Dorfe zu führenden Kleiwege passierbar, die übrige Zeit des Jahres waren sie für Fußgänger und Wagenverkehr nicht benutzbar.

Man schrieb das Jahr 1810. In Esklum herrschte freudige Erregung. Im Schalloch des Turmes war ein Junge postiert. Die Gemeinde erwartete ihren neuen Domine aus Anloo in der niederländischen Provinz Drenthe. „Geod uppassen“, un fut reopen!“, kommandierte der Kirchendiener, der mit einem Helfer die Glockenseile hielt und sich noch einmal in die Hände spuckte. Dann ertönte der Ruf: „He kummt!“, und schon setzte das Geläute ein.

Am jenseitigen Ufer erschien eine große Kutsche; von Reitern auf geschmückten Pferden begleitet. Die Pünte nahm Wagen und Begleitung auf, und bald darauf konnte Domine Mecima von der ganzen Gemeinde begrüßt werden; mit seiner Familie im schön geschmückten Pfarrhaus Einzug halten.

Siebenundvierzig Jahre lang lebte er in seiner Gemeinde; mit ihr Freud und Leid teilend, bis er am 21. Dezember 1857 das Zeitliche segnete und unter den gewaltigen Eschen auf dem idyllischen Friedhof neben seiner Frau und seiner Mutter seine letzte Ruhestätte fand.  

In einem Haus- und Wirtschaftsbuch hat er peinlich genau alles eingetragen, was ihm in seiner Gemeinde, seiner Familie und seinem wirtschaftlichen Leben begegnete. Letzteres soll uns hauptsächlich in diesen Zeilen interessieren. Vor uns liegt ein schwerer Schweinslederband im Großoktavformat. In energischer, aber doch zierlicher Schrift mit dem selbstgeschnittenen Federkiel wird uns in holländischer Sprache eine solche Fülle des Erlebten geboten, dass man ausrufen möchte: „Wenn wir doch auch heute so viel Zeit zur Besinnung hätten, wie die Menschen damals!“ – Doch mag uns nun das Buch selber berichten.

Da der Pastor an Einkünften, „außer geringen Stolgebühren“, kein Bargeld bekam, ihm vielmehr die zur Pastorei gehörenden Ländereien in natura zum eigenen Gebrauch oder zur Verpachtung angewiesen wurden, nahmen überall die Gemeinden Bedacht darauf, die Pfarrwohnung mit den nötigen Wirtschaftsräumen zu versehen und bauten sie deshalb genau wie ein Bauernhaus. Zahlreiche Außendeichspfänder sowie Weiden, Wiesen und Äcker gehörten zur Esklumer Dotation, genannt werden die Stücke „ ´t  Zand“, „de Beslyking“, „de Binnenanwass“,  „t  Kolkstück“, „dat Voedpadsveer“, „de Paardeweide by de Dyk“, 

„`t  Lange of Groote Dagmet“,  „de Dagmet onder`t  Hoornveen“, noch drei und zwei „Dagmet“ in der Nähe vom Hoornveen, „de Boskamp“, vier Dagmet „Eeumsland“ und sogenannte „armakkers“.

Einen Teil der Ländereien verpachtete Domine Mecima, viel nahm er auch in Eigengebrauch. Daher gehörte zum Haushalt noch das nötige Gesinde, zwei Knechte und zwei Mägde, und in der „drokken“ Zeit noch die beiden Arbeiter Jan und Habbe. Die Dienstboten wurden gegen genauen Kontrakt „gewonnen“ und bliebn oft viele Jahre, die meisten bis zu ihrer Heirat, ein Beweis dafür, dass Herrschaft und Gesindel in einem sehr guten Verhältnis zueinander standen. – Dirk Janshen Smit stand vom Jahre 1817 bis zum Jahre 1829 im Dienst, lange blieben auch Peter Janssen Kromminga, Simon Hindrich Stop und Jelle Oltmanns.

Engel Janssen diente vom Jahre 1810 an, Maryke wird im Jahre 1812 genannt, Geeske Bonck blieb vom Jahre 1819 bis zum Jahre 1825 im Dienst. – Endlich sei noch Zwaantje Richers Frey genannt. Der Jahreslohn schwankte bei den Knechten zwischen acht und zehn Pistolen, bei den Mägden zwischen fünfundzwanzig bis vierzig Gulden holländisch.

Im Stall standen eine große Anzahl von Kühen und Kälbern, einige Schafe und Schweine, dazu zwei Pferde. Domine fuhr oft aus im Kapwagen (Kutsche) oder im Korbwagen. Hauptprinzip war: der Haushalt muss aus dem Eigenbetrieb leben.

Es ist sehr interessant, zu lesen, wie genau alles bis ins Kleinste aufgeschrieben und berechnet ist. Einen großen Raum nimmt die Heuernte ein, „dat eerste Winsel“, und „dat tweede Winsel“. Das meiste Heu wurde auf dem Außendeichsland gewonnen. Jeder Landwirt weiß, wie schwierig sich das häufig bei Regenwetter, Hochwasser und starkem Schlickanfall gestaltet. In dem regenreichen Jahre 1854 berichtet der Schreiber kindlich fromm, dankbar und frohlockend: „Van`t Zand söventien een halv Feör hooi“, alles zonder Slyk en extra droog, en dat in het wisselvallige en zoo regenagtige weer! Nooit beter gehad! Soli Deo gloria!

Die gesamte Heuernte, des Jahres 1854 erbrachte vierundfünfzig Fuder. Auf den Bauäckern wurden Hafer, Gerste (Winter- en Meertengerst) Roggen und Kartoffeln angebaut, letztere nur für den Haushalt. Von Hafer und Gerste wurde nach Sicherstellung des Saatgutes der nötige Jahresbedarf für Hafergrütze und Graupen, vom Roggen das nötige Brotkorn, aussortiert. Der Rest von allem wurde als Viehfutter aufbewahrt. Gut und reichlich wurde eingeschlachtet, dies mögen nur die Jahre 1853 bis 1856 bestätigen. Geschlachtet wurde stets „de oude Motte“, eine „Mottbigge“, eine „Bargbigge“ und außerdem ein „Beest“. Dasa Jahr 1853 erbrachte sechshundertzehn Pfund netto Schlachtgewicht, das folgende Jahr gut siebenhundert Pfund, anno 1855 gab es zwölfhundert Pfund. Das Rind schlecht ausgefallen. – Im Jahre 1856 waren es sogar fast fünfzehnhundert Pfund. „Nooit zoovel ongel in en Kou gehad!“ – Und da man noch im Zeitalter der Kerze lebte, kam der überreichliche Talg (ongel) gut zur Verwertung. Man zog die erforderlichen Kerzen noch selber. Eine Notiz besagt: „235 Kerzen van die ongel getrokken!“

Die Verarbeitung der großen Fleischmassen zu „Böönflees“, Dauerwurst und einer noch heute von alten Leuten hochgeschätzten Konserve, der sogenannten „Rulle“, die in Buttermilch aufbewahrt wurde. Frischfleisch kannte man kaum. Junge Schafböcke und Geflügel mussten ab und zu aushelfen.

Kuhhaut und Kalbfell wanderten zum Schuhmacher, der oft nebenher selber Lohgerber war. Eingetauscht wurde Leder, das Baas Meyel Vry in Weener dann zu derben, langen Stiefeln und Halbschuhen verarbeitete.

Sollte ein Pferd verkauft werden, so traten die Händler Borchers und Pannenborg aus Weener in Erscheinung; handelte es sich aber um Kühe, Kälber und Schafe, dann musste der „Jude Jacob Smoel“ aus Leer ins Haus kommen.

Die anfallende Wolle der Schafe wurde im Hause gesponnen und verstrickt. Butter und Käse stellte man auch selber her. Domine führt die Käsepresse als sein persönliches Eigentum auf.

Ab und zu traten unter dem Viehbestand auch Krankheiten auf. – Ein Tierarzt war schwer zu erreichen, deshalb musste man sich selber helfen, so gut es ging. Kein Wunder, dass man eine gehörige Anzahl von Rezepten aller Art kannte und für Mensch und Tier verwandte. Peinlich genau sind sie alle eingetragen. Der Hauptkenner solcher Rezepte war ein gewisser „Haike Spitlander“, der stets bemerkt, dass es „das beste Mittel im gegebenen Fall“ sei. Der Kuriosität halber mögen zwei Rezepte in deutscher Übersetzung folgen:

Rezept gegen Gicht

Drei Pfund Sägemehl von Pockholz mit drei Krug Regenwasser so lange kochen lassen, bis die Flüssigkeit zur Hälfte verkocht ist. Aller durch ein Leinentuch filtern und davon dreimal täglich eine gewöhnliche Teetasse voll nehmen.

Rezept gegen die Verstopfung einer Kuh

Man nehme eine gewisse Menge „Schapekötels“, die gebe man in eine Teste (die man gewöhnlich in einer Feuerstove gebraucht), gieße kochendes Wasser  aufgelöst darüber, und, wenn die „Schapekötels“ durch das Wasser aufgelöst sind, gieße man alles durch ein Sieb und gebe die Flüssigkeit der Kuh total ein, dann wird diese sicherlich „Afgang“ kriegen.

Dies Rezept ist von Haike Spitlander, der behauptet, dass dies das beste Mittel gegen Verstopfung ist. Wenn nichts mehr helfen will, dann hilft dies sicher!

Und mit welchen Krankheiten musste man nicht rechnen! Es gab Rezepte für: „Voor veraanderde Maagkwaal“, ferner „voor een mensch, zoo dezelve door drinken von regenwater met vergiftige dieren met Lyfpan of benauwdheden gekwelt word“, „voor boeglamhheld van een paard“, „voor een koe die kwynt en men niet weet, wat dezelve hapert“, „voor een koe niet melk worden kann“, „voor een paard; das dezelve de Hasehakke uit hefft“, „voor een paard, dat de Kneeschieve verrekt heeft“, „voor enn paard, dat hasehakken of gallen heeft“.

Waren Menschen erkrankt, so holte man einen Arzt aus Leer, Chirurgus Bode „de Dikke“ oder Chirurgus Bode „de Kleine2.

Ersterer, man ging mit der Zeit vorwärts, erhielt im Jahre 1818 „voor Elisabeth ingeent!“ (Pockenschutzimpfung) drei Reichthaler. Das Haarschneiden im Hause besorgte Jan Wimmer für einen Jahreslohn von „zwei Richsthaler und 27 Stuiver Pruisch“.

Im ganzen Hause gab es nur offene Herdfeuerstellen. Im Jahre 1827 entschloss sich Domine Mecima, in einer Stube einen eisernen Ofen aufzustellen. Friedrich Zolna aus Leer lieferte ihn am 22. Oktober.

Besonders bemerkenswert an der Rechnung für den Ofen ist, dass bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein der gesamte geschäftliche Schriftverkehr auch in Leer in holländischer Sprache geführt wurde.

Die Notiz – bovenstande rekining heb ik E.H. Mecima betaald met vier Pistolen goud en achtien Stuiver pruisch courant de 23. November 1827 – lenkt uns auf die schwierigen Geldverrechnungen dieser Zeit hin. Man rechnete mit Gulden, Stuiver und Deut holländisch, mit Gulden, Stuiver und Witte ostfriesisch; mit Reichtalern, Groschen und Pfennigen, mit Groschen und Gutegroschen (letztere hatten zwölf Pfenninge Wert); ferner mit Pistolen und endlich mit Gulden in Gold und Courant. – Alles Geld in Gold war damals fünf Prozent mehr wert als Geld in Courant.

Doch diese Rechnerei mag den Ostfriesen – denen Rechnen ja immer eine der liebsten  Disziplinen war – wenig Schwierigkeiten bereitet haben.

Webstoffe stellte man selber nicht her; man bezog sie aus Leer und aus dem Münsterlande. Ein ständiger Lieferant war Berend Hinderk Fikke aus „Grooten Staveren in Münsterland“, - Wiederholt lieferte er witte Baje für die Betten, „zwart Laken“ für die Mäntel; „zwart gecoepert Laken“, Linnen und oft „twee Dozynt“ (dutzend) kleine Camisols Knopen“. Die Händler aus dem Münsterlande bereisten als sogenannte „Marskramer“, auch „Kiepen-Kerle“ oder auch „Hosefelings“ (Westfälinger) bezeichnet, Ostfriesland und das benachbarte Groningerland. In den Niederlanden brachten es manche ihrer Nachkommen zu großem Wohlstand, so die Dröge`s in Winschoten, die aus Werlte kamen, und die Brenninkmeiers in Amsterdam, die wohl die größten Manufakturisten in den Niederlanden überhaupt sind.

Eine ständige Auflage bildeten die Fährgelder, die als sogenannter Fährschatz an die Esklumer Tjakkleger, Logaer, Leerorter und Weener-Fähren zu zahlen waren. Die Fährpächter zogen den Fährschatz oft persönlich ein; so auch der von Weener mit zwölf, zehn oder sechs Stuiver pro Jahr. Man lebte bescheiden, doch gönnte man sich und den Gästen gerne ein gutes Glas Rotwein. Den Wein lieferte bis zu seinem Tode im Jahre 1823 Jan Anotni aus Weener, später die Firma Frericks und Müller aus Papenburg, und zwar in Viertelohm – und halben Ankerfäßchen. Man zog den Wein selber auf Flaschen und lagerte ihn im Keller.

In seinen letzten Lebensjahren musste sich der alte Domine sehr über Jan und Habbe ärgern, die zwei Dagmet Gras im Hammrich mähen sollten und dabei sehr faulenzten. Jeder mähte in zwei Tagen nur ein halbes Tagewerk. Zur Rede gestellt meinte Jan: „Ja, dat konden wy ook wel doen, als wy ook eten un Drinken met kregen, wat anderen kregen!“ – Der alte Herr rief seine Tochter, die Witwe Pannenborg, die ihm seit dem Tode ihres Mannes im Jahre 1852 den Haushalt führte, und fragte sie, ob sie den beiden nicht genügend Essen und Genever mit gegeben habe. „Ja, genau soviel wie immer“, war die Antwort. Wörtlich heißt es nun weiter: „Hierop hefft Alltje nur, in een zaadkorf Boter, een heel Brood (daar konde hy zoo een groot Stück afsnyden als hy hebben wilde), een halve kroes Genever, een halve Styge gekookde Eieren en voor veereenhalve Stuiver Tabak gedaan“. Damit sind Jan und Habbe wieder zum Mähen hinaus gegangen, und man staune, um zwei uhr waren sie mit der Arbeit bereits fertig. Darüber und über die bodenlose Faulheit der Arbeiter bricht der alte Herr in die Worte aus: „Is dat niet slecht?“

Abschließend sei noch bemerkt, dass auch Wetterbeobachtungen nicht fehlten, wie: „23. July (zondag) Brandend heet weer; 24. July (Maandag) Een goed Schoer regen `s  morgens vroeg!“

Dienstlich zu betreuen hatte der Pastor außer dem Dorfe noch die Ortschaften Heerenborg und Tjakkleger. Geruhsam ging es alles zu, und dankbar schloss der alte Herr im jahre 1857 die müden Augen in dem Bewusstsein, in dem Verlobten seiner Enkelin, Ida Johanna Pannenborg, Pastor Riedlin, einen würdigen Nachfolger zu haben.

 

Mit freundlicher Genehmigung der Druckerei und des Verlages J. Risius KG veröffentlicht:

Der Deichwart. Heimatbeilage zur Grenzlandzeitung Rheiderland, Nummer 38; Weener, den 14. Februar 1959