Aus dem mittelalterlichen Kirchspiel

Eine verantwortungsbewusste Ortsgeschichtsschreibung wird zeitlich stets dort einzusetzen haben, wo sich schon urkundliche oder wenigstens anderweitig beweisbare Nachrichten anbieten. Diese liegen für Grotegaste frühestens aus dem 14. Jahrhundert vor und zwar sind es Glockeninschriften, die schon manches aussagen können.

Wie Mitling und Mark liegt Grotegaste auf einem vermutlich aus der auslaufenden Eiszeit herrührenden Sandhügel, auf dessen mögliche Entstehung auch Dodo Wiltvang in seiner 1924 herausgegebenen Schrift „Ein Endmoränenzug usw.“ auf Seite 18 näher eingegangen ist. Als im frühen Mittelalter sich hier die ersten Einwohner ansiedelten und schließlich aus mehreren Bauernhöfen ein Kirchdorf entstand, erhielt es im Volksmund auch seinen Namen, der wenigstens im 14. Jahrhundert „Allignaragast“ lautete. Diesen Ortsnamen gibt auch die Inschrift auf der ältesten Grotegaster Glocke wieder. Im Register der Einkünfte aus den Pfarreien der Diözese Münster (Ostfr. UB.No: 961) erscheint im nachfolgenden 15. Jahrhundert ein Kirchspiel Halingagast, mit dem nur das heutige Grotegaste gemeint sein kann. Vor Halingagast wird im Register „Yderahane“ (Yderahave – Ihrhove) erwähnt. Abschließend ist der Liste der zur Probstei Leer gehörenden Pfarreien erscheint dann „Aldahave“ (Oldehof). Der Verfasser hat nicht eindeutig klären können, ob letzteres Kirchdorf mit Oldehof südlich Völlen identisch gewesen ist. Mitling und Völlen gehörten nämlich im Mittelalter zur Diözese Osnabrück. Vielleicht ist Oldehave ein später aufgegebenes Kirchdorf im Hammrich zwischen Grotegaste und dem heutigen Großwolde gewesen.

Im Schiedsspruch des Ratssendboten der Städte Hamburg und Lüneburg in Sachen verschiedener Streitigkeiten unter maßgeblichen Häuptlingsfamilien vom 8. Dezember 1409 (Ostfr. UB No. 1753 kamen auch Räubereien im Overledingerland zur Sprache und Entscheidung. Keno tom Brok wurde vorgeworfen, einen Ort Halingmore gebrandschatzt zu haben. Dieser hat gewiss am Rande eines sich von Osten in den heutigen Hammrich vorschiebenden Flachmoores gelegen. Offenbar ist mit Halingmore aber nicht Halingagast gemeint gewesen, sondern eine Siedlung, die später wegen der Vernässung der Hammrichgebiete aufgegeben worden ist.

Nun sind aus dem Mittelalter Ortsnamen für den heutigen Leser meistens schwer verständlich. In der kirchlichen Verwaltungssprache jener Zeit sind sie oft sehr entstellt wiedergegeben worden. Auch die weltlichen Kanzleien befleißigen sich keineswegs einer besonderen Genauigkeit. Bei Halingagast und Allignaragast ist man zweifellos von den Namen hier wohnender, wohlhabender Grundbesitzer ausgegangen. Beiläufig sei bemerkt, dass auch Lütjegaste im 14. Jahrhundert (1380) noch Lyuddinggast genannt wird. Hier wohnte 1380 Tammo Ewinga, ein unruhiger Zeitgenosse, der einige Leute aus dem Emsgau gefangen gehalten hatte und sich für die Freilassung ein Lösegeld versprechen ließ (Ostfr. UB Nr. 140). Ein friedlicher Zeitgenosse scheint er nicht gewesen zu sein.

Alte Register aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts führen bereits den Ortsnamen Grotegast und zwar im Gegensatz zum benachbarten Lütjegast, das schon nach Ihrhove eingepfarrt gewesen ist.

Im 14. Jahrhundert (1352) wurde für Allignaragast die große Marienglocke gegossen, und zwar von dem berühmten „hermannus“. Die Inschrift verweist weiter auf einen namentlich nicht mehr feststellbaren „plebanus“ (Leutpriester). Zwei weitere Namen (Vornamen) dürften die der beiden Kirchenvorsteher oder Hilligmannen gewesen sein. Auf der Glocke selbst wurde im Guss der Kopf Johannes des Täufers in einer Schale liegend bildlich dargestellt. Der ebenfalls auf dem Glockenmantel sichtbare kleine Kopf ist vermutlich eine Heiligenfigur, möglicherweise die Gottesmutter darstellend.

Am Tag vor dem Fest der Maria Magdalena (22. Juli) wurde 1364 noch eine kleinere Glocke für das Kirchspiel Grotegaste gegossen. Das geht zwar nicht aus der Inschrift hervor, ist aber doch mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen. In der Glockeninschrift erscheint sogar der Name des Pfarrers Tydericus. Die mittelalterlichen Geistlichen wurden in der Regel mit ihren Vornamen angesprochen, selbstverständlich unter Voransetzung der Anrede „dominus“ (Herr). Tydericus ist der einzige noch namentlich bekannte mittelalterliche Geistliche zu Grotegaste, der sich übrigens damals (1364) um den Guss einer zweiten Glocke bemüht haben muss (Glockenkunde Ostfrieslands von A. Rauchheld. Emden 1929 S. 78 und 187).

Zum mittelalterlichen Kirchspiel Grotegaste zählten bereits die kleinen Dorfschaften Dorenborg und Hilkenborg sowie das Bauerngut Coldemüntje. Von letzterem wird gelegentlich gesagt, es sei einmal ein Klostervorwerk gewesen. Bewiesen ist das jedenfalls durch Urkunden nicht. Darauf wird später noch näher einzugehen sein.

Dorenborg und Hilkenborg haben keineswegs ihre Namen von ehemaligen „Burgen“ abzuleiten. Dass an beiden Plätzen aber wohlhabende Grundbesitzer ein massives Haus, umgeben von einem Schutzgraben hatten, ist nicht auszuschließen. Im Volksmund ist man zweifellos zu leicht geneigt gewesen, in solchen Fällen von einer „Borg“ zu sprechen, insbesondere wenn sich der Besitzer eines Bauernhofes in der Umgebung durch den ansehnlichen Landsitz besonders herausstellte.

Dorenborg und Hilkenborg finden Erwähnung in einer aus dem Jahre 1439 stammenden Urkunde. In dieser bekunden die Häuptlinge Edzard zu Norden und Ulrich zu Esens, von den Hamburgern eine große Anzahl ostfriesischer Plätze auf Schlossglauben in Form von regelmäßigen Lieferungen und Leistungen. Aus einem jeden Haus zu Hilkenborg und Dorenborg (Torneborgh) erhielten die Hamburger alljährlich eine Tonne Gerste. Diese Lieferungen standen seit 1439 den vorgenannten Häuptlingen zu und kamen damit in den Besitz der späteren ostfriesischen Landesherrschaft.

Im Ausgang des 15. Jahrhunderts besaß die ostfriesische Gräfin und Landesmutter Theda Erbgrundstücke oder Ländereien zu Hilkenborg bzw. in nächster Nähe. In dem umfangreichen Testament vom 17. Mai 1494 (Ostfr. UB No. 1395) wird von Theda u.a. bestimmt, dass dieser Grundbesitz dem Kloster Ihlow zufallen sollte, aber mit der Auflage, aus den einkommenden Pachten alljährlich dem Konvent (Kloster) Meerhusen zwanzig rheinische Gulden abzugeben. Das Ihlower Kloster kam 1549 auf Grund eines Erbpachtvertrages mit einer wohl fast zwangsweise den Ordensoberen abgezwungenen Genehmigung in die Verfügungsgewalt des Auricher Drosten Jürgen von Münster, der aber im gleichen Jahr sofort wieder einen Übergabevertrag mit der Gräfin Anna von Ostfriesland abschloss.

Der Drost war offenbar nur als Mittelsperson vorgeschoben worden. So kamen die dem Kloster früher von der Landesmutter geschenkten oder vererbten Ländereien zu Hilkenborg wieder in den Besitz des ostfriesischen Grafenhauses. Sie wurden verpachtet. Pachteinnahmen aus diesem Besitz erschienen noch laufend in alten Leerorter Amtsrechnungen des 17. Jahrhunderts (Rep. Nieders. Staatsarchiv, Aurich).

Das nördlich von Hilkenborg gelegene, aus mehreren Plätzen bestehende Coldemüntje hat uns seine spätmittelalterliche Geschichte nicht offengelegt. Ältere ostfriesische Chronisten (darunter Houtrouw) erwähnen den Durchzug von Reiterverbänden des Bischofs von Münster im Jahre 1496 gelegentlich seines Einfalls in das Overledingerland. Der Bischof ließ seine Soldaten von Weener aus über die Ems setzen und in Coldemüntje Quartier nehmen. Das erscheint möglich, denn westlich von Coldemüntje befand sich in alter Zeit eine für den Verkehr nach Weener bestimmte Fähre. Unsere alten Chronisten glauben nun, Coldemüntje sei ein Klostervorwerk von Muhde gewesen. Das ist allerdings nicht ausreichend unter Beweis gestellt. Auch die Annahme, es müssten umfangreiche Baulichkeiten vorhanden gewesen sein, um einen berittenen Truppenverband aufnehmen zu können, erscheint höchst zweifelhaft, ganz abgesehen davon, dass wir heute nicht mehr in der Lage sind, die Stärke einer damaligen Invasionstruppe auch nur annähernd abzuschätzen. Münstersche Streifzüge ins Ostfriesische zu unternehmen, das war schon mit einigen hundert Bewaffneten zu riskieren. Viel problematischer waren die damals besonders in der schlechten Jahreszeit sehr schlechten Wegeverhältnisse des Overledingerlandes. Da gab es einmal den alten Lüdeweg durch den Hammrich, dann den sogenannten Deichweg von Völlen bis Esklum, richtiger bis zur Kommende Muhde, wo eine Fähre gegenüber Leerort existierte. Diese ist später nach Esklum verlegt worden. Für die Landleute im Kirchspiel Grotegaste spielte daher der Bootsverkehr auf den zur Ems fließenden Wasserzügen mit ihren Sielen eine große Rolle. Diese Landschaft mit ihrer in Herbst und Winter recht problematischen Wassernot ist nur noch der älteren Generation vorstellbar. Von auswärts kommende feindliche Truppenverbände konnten nur in trockenen Sommermonaten operieren. Tiefer Friede ist unserem Gebiet im Spätmittelalter, aber auch während des Reformationszeitalters, nie gesichert gewesen. Mit ständigen Gefahren aller Art musste man im Kirchspiel nun einmal leben.