Das Emsdorf Driever um 1600

 

Die Einwohnerschaft des kleinen Kirchspiels begegnet uns in einer interessanten Übersicht, allerdings nicht mit genauen Zählangaben, in einem Viehregister, das etwa 1598 erstellt sein muß (Beestbeschreibung, Staatsarchiv Aurich Rep. 4 c I g 27). Auch weitere Register aus diesem Zeitraum verdienen eine Auswertung. Neben dem Pastor war damals noch eine zweite Amtsperson in Driever wohnhaft, nämlich der Auskündiger Onneke, in dieser Eigenschaft vom Amt Leerort bestellt und verpflichtet. Seine Aufgaben entsprachen in etwa dem eines Polizeibeamten, der sich jedoch nach den Anweisungen des ihm übergeordneten Vogts in Esklum richten mußte. In dringenden Fällen konnte er notfalls auch Fremde verhaften und dem Amt übergeben.

 

Johann Wibetz war“Kröger“, also Inhaber eines Wirtshausbetriebes. Aufschlußreich ist die Nennung eines Roleff  Plagge, der als Müller bezeichnetwird. Nun wird in späteren zeiten von der Existenz einer Mühle in Driever nichts berichtet. Es ist daher möglich, daß dieser Roleff nur ene Roßmühle in Betrieb gehabt hat.

 

Fünf Einwohner gingen den Beruf eines Tagelöhners nach. Dieser Berufsstand war in den Dörfern entlang der Ems nicht ohne Bedeutung. In den arbeitsschwachen Wintermonaten konnte sich nicht jeder Platzbesitzer fremdes Personal halten. In den Sommermonaten wurde dann aber gern auf ortsansässige Hilskräfte, in diesem Fall Tagelöhner, zurückgegriffen. Dadurch, daß letztere selbst ein wenig Land- und Viehwirtschaft betrieben, konnten sie sich eine dürfitge Existenz sichern. Ein Wohlstandszeitalter hat jene Welt gewiß nicht gekannt oder davon zu träumen gewagt.

 

Es gab in der Gemeinde vor 1600 auch einen Einwohner Allit Diutz oder Viets, der als „visch(er)“ bezeichnet wird. Vielleicht wohnte er in einem kleinen Haus zu Lütjedriever, wo er als Fischer tätig war. Zu seinem Viehbestand gehörte eine Kuh.

 

Drei Einwohner Drievers hatten ihren Vornamen einen Ortsnamen angehängt und bekundeten damit, daß sie von auswärts zugezogen waren. Jedenfalls ist bei Heinrich van Essen, Philipp von Gotha und Lüke von Liage unschwer zu erkennen, daß sie nicht aus alteingesessenen Familien stammten. Im 16. Jahrhundert traten Personen mit Ortsnamen aus dem Stift Münster und anderen Nachbarstaaten allzu häufig im Overledingerland auf. Sie waren zweifellos eingewandert. Vielleicht haben dabei konfessionelle Motive mitgewirkt oder junge Leute wanderten aus benachbarten Staaten ein, um sich für die Zukunft drückenden Lasten oder gar dem Kriegsdienst zu entziehen. Ostfriesland, das keine Leibeigenen kannte, galt im Ausland immerhin als eine  Grafschaft, in der der freie Mann noch etwas zählte.

 

Als vorherrschendes Berufsbild sehen wir im alten Driever um 1600 die landwirtschaftliche Betätigung. Ackerbau ist nur im geringen Umfang betrieben worden. Vorherrschend war die Vieh- und Milchwirtschaft. Mit heutigen Verhältnissen war dieser Sektor aber nicht entfernt zu vergleichen. Der Bestand an Milchkühen war schwankend. Ihre Zahl dürfte sich nach vorliegenden Registern um 1600 auf etwa 150 belaufen haben. Jungvieh wurde sehr wenig gehalten. Viehhalter, die zehn und mehr Milchkühe besaßen, gab es nur wenige. Zahlreiche Einwohner zählten zu den Ein- und Zweikuhhaltern. Pferde gab es kaum ein Dutzend in der Gemeinde. Es ist daher unerfindlich, wie dann überhaupt die Heuernte eingebracht werden konnte. Es wäre denkbar, daß dieser Engpaß durch Gemeinschaftshilfen überbrückt worden ist, insbesondere für die auf den Bauernstellen tätigen Tagelöhner. Ob auch die Zugkraft der Kühe ausgenutzt worden ist, läßt sich heute nicht mehr ermitteln. Qualitätsvieh, das ein einheitliches zuchtziel erkennen ließ, hat man im alten Driever vor 375 Jahren gewiß nicht gekannt. Die Milchleistungen waren bescheiden. Eine durchschnittliche Jahresleistung von 2000 kg je Kuh ist keineswegs zu niedrig geschätzt. Die Milchverwertung war recht schwierig. Sie mußte, da es keine Molkereien gab, die altväterliche Hausbutterung durchlaufen. Die Morgen- und Abendmilch wurde in Aufnahmebehältern gesammelt. Der sich nach anderthalb Tagen an der Oberfläche ansammelnde Rahm konnte mit der Hand oder einem Schöpflöffel abgenommen und dann verbuttert werden. Dabei ließen sich natürlich Fettverluste nicht vermeiden. Der Milchverbrauch zu einem Pfund Butter war daher ein sehr hoher. Die Magermilch konnte verfüttert oder in großen Betrieben zu Käse, einem Mager- oder Lederkäse mit Kümmel, verarbeitet werden. Käse aus Süßmilch war ebenfalls bekannt. Butter und Käse kamen an Händler in den nahen Flecken Leer oder Weener zum Verkauf. Die Masse des Milchanfalls bestand in der sogenannten Sommermilch der Weidezeit. Im Winter standen die Kühe fast trocken. Die Kalbzeit wurde in die Vorweideperiode verlegt.

 

Selbst der Herr Prediger war nach dem Viehregister der Zeit um 1598 ein eifriger Viehhalter. Vier Kühe standen in seinem Stall. Jungvieh besaß er nicht. Offenbar hat bei den Herdbesitzern in Driever die Aufzucht wenig Interesse gefunden. Es wurde ein schneller Verkauf vorgezogen, um möglichst viel Bargeld in die Hand zu bekommen.

 

Recht aufschlußreich ist, daß man eine gute Milchkuh danach bewertete, wieviele Pfund Butter und Käse aus ihrem Milchertrag im Sommer erzeugt werden konnte. Die Wintermilch spielte anscheinend keine große Rolle, weil sie zur Not nur für den Eigenbedarf ausreichte.

 

Unsere Wanderung – jedenfalls mit dem geistigen Auge durch das alte Driever um 1600 mag damit abgeschlossen sein. Häufig ergeben sich aus vergilbten Archivalien und alten Registern nur Kleinigkeiten, die aber ausgewertet in ihrer Gesamtheit doch eine nicht uninteressante Vorstellung vom Leben und Treiben in einer kleinen Gemeinde des Overledingerlandes vor dem dreißigjährigen Krieg ergeben können. Manches Bild aus jenen Tagen, das uns vergilbte Schriftzüge vermitteln, wird uns trotz der Zeitspanne von mehreren hundert Jahren heute sogar noch recht vertraut erscheinen. Die „Drieveraner“, wenn wir diesen Begriff einmal prägen dürfen, hatten ihre Eigenart. Fleißig und sehr sparsam suchten sie mit den Problemen ihrer Zeit fertig zu werden. Das hielt die Gemeinde keineswegs davon ab, ihr Recht auch einmal in einem langjärigen Prozeß zu vertreten. Darüber berichtet die im Ausgang der ostfriesischen Fürstenzeit vom Amtmann Kettler zu Leer verfaßte Amtsbescheinigung. Dieser erwähnt darin rückschauend einen langjährigen Prozeß Drievers mit dem benachbarten Kirchspiel Ihrhove. Es ging keineswegs um ein weltbewegendes problem, sondern um ein Stück Deichland an der Südseite des Weekeborger Siels. In solchen Fällen konnten die den Prozeßpartnern vorstellbaren eigenen Rechte immer sehr nachhaltig vertreten werden. Eine unterliegende Partei blieb aber von den gewiß nicht geringen Kosten kaum verschont.

 

In der Vorstellung vor 350 jahren waren Ausgaben, etwa für kirchliche Einrichtungen und Bauten, bei den sparsamen Gemeindegliedern nicht beliebt. Öffentliche Mittel, etwa der Landesherrschaft, standen dafür nicht zur Verfügung. Sie mußten von der Gemeinde aufgebracht werden, notfalls im Umlageverfahren. Das war keineswegs eine bequeme sache. So ist es dann auch in der späteren Zeit ds 18. Jahrhunderts verständlich, daß die Dorfjugend mit ihrem Schulmeister in einem mehr als dürftigen Schulhaus zubringen mußte.

 

Der tiefere Grund für eine geringe Zahlungsbereitschaft lag auch nicht zuletzt in der bescheidenen Ertragsfähigkeit der heimatlichen Landwirtschaft. Jedenfalls konnte man von einer intensiven Bewirtschaftung der Betriebe nicht sprechen. Zuchtvieh in der heutigen Vorstellung hat es nicht gegeben. Die Preisgestaltung für Vieh und landwirtschaftliche Produkte war weitgehend von der Marktgestaltung abhängig und daher recht schwankend.

 

Über Viehpreise in unserem Gebiet vermitteln uns aus dem Jahre 1605 die alte Stickhauser Amtsrechnung einige Angaben. Damals wurde der Schatthausbetrieb bei der Stickhauser Burg umgestellt. Der Milchviehbestand kam zum öffentlichen Verkauf. Der Pastor aus Logabirum kaufte mehrere Kühe. Käufer waren auch Einwohner aus Leer. Die Presie ja milchkuh bewegten sich zwischen 13 und 18 Taler, in diesem Fall wohl ostfriesische Taler, so daß man je Kuh auf einen Preis von etwa zehn Reichstaler kommt. Das waren zweifellos Preise für beste Milchkühe. Der Wert des qualitätsmäßig noch geringeren Viehs auf der Geest dürfte niedriger gelegen haben.

 

Die wirtschaftlichen Verhältnisse im alten Driever um 1600 sind nach den uns vorliegenden Erkenntnissen keineswegs als rosig zu bezeichnen, aber sie waren noch besser, als in den nachfolgenden Jahrzehnten, in denen die Leiden des 30jährigen Krieges manchen Platzbesitzer an den Rand des Ruin gebracht haben.