Andreas Philipp, Hermannus me fecit - zum Glockenjubiläum in Grotegaste

Am 17. Mai 2002 hatte der Verfasser die Freude, auf Einladung von Herrn Pastor Busemann-Disselhoff die Glocken der Evangelisch-reformierten Kirche in Grotegaste zu besichtigen und untersuchen zu dürfen. Anlass war ein Jubiläum: die größere Glocke wird 650 Jahre alt. Sie sollte genau vermessen und ihr Klangaufbau festgestellt werden. Außerdem galt es, die Inschrift zu lesen; das gelang nur teilweise, weil einige Buchstaben allzu undeutlich erschienen und der Sinn manchmal unklar war. Im Zuge der Inventarisation war es sinnvoll, auch die zweite, nur zwölf Jahre jüngere Glocke zu erfassen, die jedoch nicht vom selben Gießer stammt. Auch ihre Inschrift war nur in Teilen zu lesen und gab uns Rätsel auf. Im folgenden soll über die Inventarisation der beiden Glocken berichtet werden.

 

Musikalische und technische Erfassung

 

Wird eine Glocke angeschlagen, so erzeugt sie nicht nur einen Ton mit einer bestimmten Tonhöhe (Frequenz), sondern eine Reihe von Tönen, die nicht alle in einem harmonsichen Verhältnis zum Grundton stehen und zusammen den charakteristischen Klang bilden, den das Ohr als Glockenschlag erkennt. Ist man geübt, so kann man beim Läuten einzelne dieser Töne heraushören, wobei bei einer Glocke mittlerer Größe die tiefsten fünf den Klang prägen. Diese Summtöne stehen zu dem Schlagton (Nominal), der beim Anschlag empfunden wird und die Tonbezeichnung bestimmt, bei einer modernen Glocke im Verhältnis der Unteroktave, Prime, (Moll-)Terz, Quinte und Oberoktave. Ein c´- Glocke ließe also die Töne c° , c´ , es´, g´, und c“ hören. Historische Glocken hingegen zeigen oft beträchtliche Abweichungen vom Klangaufbau einer solchen Moll-Oktav-Glocke.

 

Das Obertonspektrum einer Glocke wird mit Hilfe von Spezialstimmgabeln gemessen, die sich in Intervallschritten von Halbtonsechzehnteln verstellen lassen. Stimmt der an der Gabel eingestellte Ton genau mit einem Oberton der Glocke überein, so regt die auf die Glocke gesetzte schwingende Gabel diesen Oberton separat an, so dass die Glocke resoniert und den Ton der Stimmgabel verstärkt. Heute ist es auch möglich, den Tonaufbau mit Hilfe eines elektronischen Schwingungsgebers festzustellen, mit dem die Glocke kontinuierlich über einen großen Frequenzbereich angeregt wird. Ein Messkopf an der anderen Seite registriert die Stärke (Amplitude) der Schwingung und zeichnet ein Spektrum auf. Diese Messung ist völlig exakt, doch lernt man eine Glocke genauer kennen, wenn man sie mit Stimmgabeln gründlich untersucht. Die Obertöne werden während der Messung genau aufgeschrieben. Steht ein Ton beispielsweise sechs Halbtonsechzehntel unter dem g´ temperierter Stimmung, so wird er als g´- 6 notiert. Als Bezugston dient aus historisch-praktischen Gründen der Ton a´= 435 Hz, nicht der heute gebräuchliche Kammerton a´= 440 Hz.

 

Die musikalischen Kennwerte der beiden Glocken finden sich in der beigefügten Tabelle, ebenso wichtige Maße wie der untere Durchmesser, die Stärke der Glockenwandung an ihrer dicksten Stelle (Schlagringstärke) und die Schräge Höhe zwischen dem unteren Glockenrand und dem Übergang von der Haube zur Schulter. Aus der Messung geht hervor, dass die größere Glocke fast völlig dem oben beschriebenen Moll-Oktav-Typ entspricht, während die kleinere eine deutlich gesenkte Prime aufweist, was eine sehr interessante Klangfärbung bewirkt. Beide Glocken sind in leichter Rippe gegossen, d.h. für ihren Ton nicht besonders groß und schwer. Es ist nämlich möglich, mehrere Glocken recht unterschiedlichen Gewichts mit derselben Tonhöhe zu gießen. Man spricht von leichter, mittlerer oder schwerer Rippe, wobei viele Zwischenstufen realisiert werden können. Jeder Glockengießer verfügt über eine oder mehrere Rippenkonstruktionen, durch die Gestalt und Klang seiner Glocken bestimmt werden. Das gilt auch für Hermannus, der mit größter Wahrscheinlichkeit die aus dem Jahre 1330 stammende, noch heute erhaltene Glocke der ev.-luth. Peter-und-Paul-Kirche im nahen Völlen in einer deutlich schwereren Rippe, jedoch mit ähnlichem Tonaufbau, gegossen hat. Die Glocken in Grotegaste sind sehr ausdrucksvoll und bilden das charakteristische Intervall eines Tritonus, das man bei modernen Geläuten eher selten findet, da es in der Musiktheorie als „diabolus in musica“ (der Teufel in der Musik) bezeichnet wurde.

 

Inschriften und Zier

 

Wie in der Einleitung schon bemerkt, konnten die Inschriften beider Glocken nicht vollständig gelesen werden. Die Wiedergabe geschieht daher nach eigenen Leseversuchen, ergänzt durch Auszüge aus der Glockenkunde Ostfrieslands. Schrägstriche stehen für den Beginn einer neuen Zeile. Kürzungen sind in runden Klammern aufgelöst.

 

Glocke 1: Sechs-Henkel-Krone. Henkel mit Zopfmustern verziert. Kronenplatte in die Haube übergehend, Haube flach abfallend mit Rundung zur Schulter; Schulter: drei Stege, darunter 1. Inschriftzeile, darunter Steg, darunter 2. Inschriftzeile, darunter zwei Stege; Inschrift in Unzialmajuskeln und teilweise –minuskeln: (1. Zeile) + SIGNUM DONO C(H)ORO F(L)EO FVNERA FESTA DECORO VOCOR MARIA A D MCCCLII (Gesicht) / (2. Zeile:) + HERMANUS ME FESIT t(em)p(or)e d(omi)ni pleBanis (sic!) hebbo(n)i et (?) …. …. a..s i(n) allignaragast (Übersetzung: Ich gebe das Zeichen zum Chor(gebet), ich beklage die Begräbnisse, ich schmücke die Feste, ich heiße Maria – im Jahre des Herrn 1352 / Hermannus hat mich gemacht zur Zeit des Leutpriesters Hebbo und (….) in Grotegaste); Flanke: mit Ritzlinien in unterschiedlichen Mustern – teils quadratisch, teils rautenförmig, teils blattförmig – überzogen, darin die Inschrift: CHRISTE / filii (sic!) dei vivi / misere no / bis (Übersetzung: Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich unser), gegenüber Ritzzeichnung: Haupt des Täufers Johannes in einer Schlüssel, darüber Inschrift: S IOHAN(N)ES; Wolm: Wulst, flankiert durch zwei Stege; Schlagring: geritztes Wellenband, darin Kopf-Brust-Bild mit Nimbus.

 

Glocke 2: Sechs-Henkel-Krone, Henkel mit Spiralband verziert; Haube flach mit Rundung zur Schulter; Schulter: zwischen Doppelstegen schwer lesbare Inschrift in Minuskeln (teils nach Rauchheld, S. 187f., wiedergegeben) Anno d(omi)ni…mccclxiiii in (?) profesto (?) marie magdalene (in honorem?) katerine virginis … tempore (?) domini tyderici …

(Übersetzung: Im Jahre des Herrn 1364 am Tag vor dem Fest der Maria Magdalena zu Ehren der Jungfrau Katharina zur Zeit des (Pfarr)herrn Tydericus); Flanke oben, direkt unter dem Schriftband Inschrift in Majuskeln: + CAMP(P seitenverkehrt)ANA + BEATE + KATERI(NE) (Übersetzung: Glocke der seligen Katharina); Wolm: Wulst.

 

Die Inschrift der großen Glocke nennt ihren Namen: Maria. Außerdem bezeichnet sie einen Teil ihrer Aufgaben, nämlich zum Gottesdienst zu rufen, mit den Trauernden zu weinen (Begräbnisse) und die Feste zu verschönern. Eine solche Inschrift ist ganz typisch für diese Zeit und findet sich so oder ähnlich auch auf anderen Glocken. Das Bildnis Johannes des Täufers weist auf den ehemaligen Kirchenpatron in Grotegaste hin. Auch die Erwähnung des Leutpriesters (Pfarrers) Hebbo und eines weiteren Würdenträgers, dessen Name und Funktion noch nicht gelesen werden konnten, ist für eine Glockeninschrift nicht ungewöhnlich. Die kleinere, zwölf Jahre jüngere Glocke gibt eine ausführliche Datierung ihres Gusses – am Tag vor dem Fest der hl. Maria Magdalena (22. Juli) im Jahre 1364 – und nennt den Namen des Pfarrers: Tydericus. Sie ist ausdrücklich als Glocke der seligen Katharina (von Alexandrien) bezeichnet, die möglicherweise besondere Bedeutung für Grotegaste gehabt hat. Beide Inschriften sollten von Fachleuten der Inschriftenkommission gelesen und entziffert werden.

 

Zur Stellung der Glocken von Grotegaste in der Glockenlandschaft Ostfrieslands

 

Eine systematische Erfassung und Beschreibung historischer Glocken in Niedersachsen steht bislang aus. Deshalb ist nicht genau bekannt, wo heute solche Glocken vorhanden sind. Für Ostfriesland gibt Rauchhelds Glockenkunde Ostfrieslands ein Bild für die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Im Ersten Weltkrieg requirierte und bereits früh umgegossene Glocken sind mindestens teilweise erwähnt. Seit das größte historische Geläute Ostfrieslands in der Reformierten Großen Kirche zu Emden, das wegen seines Denkmalwerts von der Beschlagnahme im Zweiten Weltkrieg freigestellt war, durch die Bombardierung der Stadt vernichtet wurde, stammt nur noch eine historische Großglocke der Region aus dem (späten) Mittelalter, die anderen entstanden in der Barockzeit oder später.

 

Mit dem Gießernamen Hermannus waren und sind etliche Glocken Nordwestdeutschlands bezeichnet, wobei sich die Gusszeit über mehr als ein Jahrhundert erstreckt, so dass es sich um unterschiedliche Träger desselben Namen gehandelt haben muss. Rauchheld glaubt, fünf Glocken mit einiger Sicherheit demjenigen Gießer Hermannus, aus dessen Hand die große Glocke zu Grotegaste stammt, zuweisen zu können, doch möchte der Verfasser sich dem nicht anschließen. Sicher scheint jedoch, dass dieser Hermannus auch die nicht signierte Glocke in Völlen aus dem Jahre 1330 gegossen hat, denn hier sind Inschrift und Buchstabenform so ähnlich, dass kaum ein Zweifel möglich ist. Die Einordnung der kleineren Glocke in Grotegaste kann erst nach einem sorgfältigen kunsthistorischen und klanganalytischen Vergleich mit Glocken ähnlicher Zeitstellung geschehen.

 

Dass beide Glocken Heiligen geweiht sind, darf nicht verwundern, sind sie doch entstanden, als die abendländische Kirche noch ungeteilt war, mehr als anderthalb Jahrhunderte vor der Reformation. Als die Jubilarin 1352 gegossen wurde, regierte im Deutschen Reich König Karl IV. von Luxemburg. Die Gründung der ersten Reichsuniversität in Prag lag gerade vier Jahre zurück. 1356 übertrug die Goldene Bulle das Recht der Königswahl nebst einigen Vorrechten dem Kurfürstenkollegium. Die Päpste residierten in Avignon; eine andere Katharina als die Patronin der kleineren Glocke, nämlich Katharina von Siena, versuchte eindringlich, sie zur Rückkehr nach Rom zu bewegen. Aus dieser Zeit klingen die beiden Glocken von Grotegaste zu uns herüber. Sie sind ein großer Schatz für die Kirche, denn sie zeugen von der Handwerkskunst vergangener Tage. Welch ein Musikinstrument wird bei ständigem Gebrauch so alt wie eine Glocke? So haben die beiden Kirchenglocken in Grotegaste schon 26 Generationen zur Kirche gerufen, und sie verpflichten uns dazu, sie unseren Nachkommen zu erhalten und zu vererben.

 

 

Literatur:

Rauchheld, Adolf: Die Entwicklung der Glockengießerkunst in Ostfriesland. In: Upstalsboomblätter für ostfriesische Geschichte und Heimatkunde, 9 (120), S. 1-44.

 

Rauchheld, Adolf: Glockenkunde Ostfrieslands. In: Upstalsboomblätter für ostfriesische Geschichte, Heimatschutz und Heimatkunde, 14 (1928 / 29).

 

 

Andreas Philipp, Diplom-Physiker, Glockensachverständiger